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Warum Säure nicht zwangsläufig sauer schmeckt

Grundsätzlich weisen Säuren niedrige pH-Werte auf und werden von uns als sauer wahrgenommen. Gleichzeitig können wir Saures mit Zucker ausgleichen. Überraschenderweise ändert dies jedoch kaum etwas am pH-Wert der Lösung. Ich versuche, diesen Kreis zu quadrieren und werfe Licht auf den chemischen Hintergrund unseres sauren Geschmackssinnes.


Anknüpfend an Versuche über die pH-Werte unserer Cocktails auf dieser Seite und Selbstversuche mit unserem Säure-Geschmacksempfinden suche ich nun nach tieferem Verständnis von pH-Werten und sauren Geschmäckern. Denn offenbaren schon einfache Tests, dass sowohl Cola als auch der sehr gegensätzlich schmeckende Wermut einen vergleichbar niedrigen pH-Wert besitzen. Gleichzeitig schmeckt Zitronensaft nach Zugabe von Zuckersirup deutlich weniger sauer, doch weist er einen nahezu unveränderten pH-Wert auf. Klingt an der Oberfläche unlogisch und macht unsere Arbeit nicht leichter. Also tauchen wir ein weiteres Mal ab, um die Hintergründe unserer Arbeit durch Waagen und Erlenmeyerkolben zu schicken.


der saure Urschleim


Um Säure zu verstehen, müssen wir trocken beginnen. Doch zu den Grundlagen des pH-Wertes nur so viel: Per Definition ist der pH-Wert der negative, dekadische Logarithmus des Zahlenwertes der molaren Wasserstoffionenaktivität [H3O+]. Demnach reden wir bei dem pH-Wert faktisch von der „Potenz der Wasserstoffionen-Konzentration“. Je größer jene Wasserstoffionen-Konzentration ist, desto niedriger fällt also der pH-Wert aus. Das lateinische “potentia hydrogenii” ist also Namensgeber des pH-Wertes. Daher zeigen niedrigere pH-Werte auch stärkere, potenziell reaktionsfreudigere Säuren an.

Allerdings haben Cola und frischer Zitronensaft mit pH 3 und saure Milch und Bier mit ~pH 4,5 jeweils ähnliche pH-Werte, werden von uns jedoch sehr unterschiedlich sauer wahrgenommen. Anscheinend ist also der pH-Wert für unseren Geschmackssinn nicht unbedingt ausschlaggebend?


Säure ist nicht gleich Säure

Dem Rätsel auf die Spur kommen wir, wenn wir uns mit der Struktur von Säuren auseinander setzen. Denn es gibt die Möglichkeit, eine klare bio-chemische Grenze zwischen organischen und anorganischen Säuren zu ziehen. Erstere sind Verbindungen, welche über eine funktionelle Gruppe verfügen, welche mit Wasser eine Gleichgewichtsreaktion eingehen.

Im Gegensatz dazu umfasst die anorganische Chemie jegliche kohlenstofffreien Verbindungen. Stark vereinfacht könnte man demnach anorganische Säuren als kohlenstofffreie Säuren bezeichnen.

Dies sagt per se nichts über die Stärke oder Reaktionsfreudigkeit einer Säure aus. Allerdings spielt diese Zusammensetzung in unsere Aufnahmefähigkeit und Sensorik hinein.


Thou shalt not pass

Aufgrund des Aufbaus unserer Geschmacksrezeptoren können wir nämlich organische Säuren deutlich leichter schmecken, als anorganische. Denn es fällt organischen Säuren in undissoziiertem (ungetrenntem) Zustand deutlich leichter, die Zellmembranen unserer Geschmacksknospen zu überwinden. Es scheint, dass sie erst innerhalb der Geschmackssensoren Ihre pH-Wert-senkende Funktion ausüben. Da (vereinfacht ausgedrückt) anorganische Säuren diese Membran deutlich schwieriger zu überwinden vermögen und außerhalb von ihnen den pH-Wert senken, nehmen wir erst bei niedrigerem pH-Wert eine vermeintlich gleiche Säure wahr. Was wiederum erklärt, warum wir Essig-, Milch- oder Zitronensäure bei vergleichbarer Konzentration als deutlich saurer empfinden als ihre anorganischen Pendants Salz-, Phosphor oder Schwefelsäure. Essigsäure beginnen wir beispielsweise ab einem pH-Wert von 4 als sauer zu empfinden, Salzsäure hingegen erst ab einem pH-Wert von 2. Welches wiederum aufgrund des logarithmischen Aufbaus der pH-Skala einer hundertfach stärkeren Säure entspricht!

Als noch tiefer einführende Lektüre sei an dieser Stelle besonders Stephen Ropers’ “signal transduction and information processing in mammalian taste buds” zu empfehlen, welche bei der US-Amerikanischen Nationalbibliothek für Medizin auch online kostenlos einsehbar sind.


If life gives you lemons…

Als Fazit können wir nun also die Zweiteilung der Säurefamilie und deren damit einhergehende Funktionalität für unserer Profession festhalten: Wollen wir einen sauren Geschmack erzielen, sollten wir organische Säuren aus Früchten nutzen; also Essig, Weine oder Zitrusfrüchte. Geht es allerdings um Haltbarmachung von vorbereiteten Flüssigkeiten in welchen ein saurer Beigeschmack unerwünscht ist, empfehlen sich anorganische Säuren wie (niedrig-konzentrierte!) Phosphorsäure. Allerdings muss hier große Vorsicht walten und vorher recherchiert werden. Denn, wie Herr Diehl in seinem Werk “Chemie in Lebensmitteln” trocken bemerkt: “Phosphorsäure ist, bis auf ihre ätzende Wirkung, für den menschlichen Organismus ungiftig.”

Na dann Prost.


Dieser Artikel erschien erstmalig in der Mixology Online im September 2017.

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